Jump to Navigation
Spezial: Sonja Hartl (sh)

Struktureller Rassismus in den USA

Zwischen Unmittelbarkeit und Analyse

In diesem Frühjahr sind vier Sachbücher von schwarzen AutorInnen auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt erschienen, die sich autobiografisch und analytisch mit dem strukturellen Rassismus in den USA beschäftigen. 

Ein Mädchen, zwölf Jahre alt, wird von ihrer hinter ihr sitzenden Mitschülerin gebeten, dass sie ein wenig zur Seite rücke, damit sie abschreiben könne. „Eigentlich sprecht ihr nicht miteinander, nur das eine Mal, als sie ihre Bitte vorbringt, und später, als sie sagt, du riechst gut und hast beinahe weiße Gesichtszüge. Du nimmst an, dass sie das als Dank fürs Spickenlassen versteht und sich besser fühlt, wenn sie von einer Fastweißen abschreibt.“ Das ist eines der ersten Erlebnisse, von denen Claudia Rankine in „Citizen“ erzählt. Ein ähnliches Erlebnis hatte Patrisse Khan-Cullors, ebenfalls im Alter von zwölf Jahren. Sie wurde verhaftet, weil ihre weißen Mitschülerinnen Gras geraucht haben. Aber sie war die Schwarze, sie musste die Kriminelle sein – und ihr wurde klar, dass ihre „Hautfarbe und Armut (sie) eher definierten als Klugheit, Neugier und Leistungsbereitschaft“.

Dass er ein wenig weiß sei, wurde anfangs auch über Barack Obama geschrieben, dennoch wurde von ihm nach Einschätzung des Journalisten Ta-Nehisi Coates nicht nur erwartet, dass er doppelt so gut ist, sondern auch „halb so schwarz“. Sobald er sich für die Anliegen von Schwarzen eingesetzt hat, schlug ihm massive Kritik entgegen. Eine andere Erfahrung machte Toni Morrison, die sich an ihre „teerschwarze“ Ur-Großmutter erinnert, eine Respektperson in der Familie, die bei einem Besuch über ihre Ur-Enkelinnen anmerkte, sie seien „verpfuscht“ worden, weil ihre Haut ein wenig heller sei.

Es ist die Farbe der Haut, die die Wahrnehmung bestimmt. Ob als Schriftstellerin, #BlackLivesMatter-Aktivistin, Journalist oder Literaturnobelpreisträgerin, die Erfahrungen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt eint sie, weil sie schwarz sind und in den USA leben. Doch in ihren Büchern wählen sie verschiedene literarische Strategien, um die Auswirkungen des Rassismus zu erfassen.

Unverstellt, direkt und mit allen Widersprüchen von Erinnerungen erzählt Patrisse Khan-Cullors in ihrer Autobiografie #BlackLivesMatter, die sie zusammen mit der Journalistin asha bandele geschrieben hat, von ihrem Weg zur Selbstermächtigung. Aufgewachsen ist sie in einem armen Stadtteil von Los Angeles, mit neun sieht sie das erste Mal, wie ihre Brüder der Gewalt von Polizeikräften ausgesetzt sind. Diese Erfahrung wird sich – beobachtet und erlebt – in ihrem Leben beständig wiederholen. Für sie führt die Polizei einen Krieg gegen Schwarze, den sie nicht länger hinnehmen will und deshalb #BlackLivesMatter ins Leben ruft. Die Direktheit ihrer Schilderungen zieht in ein Leben, das man als Weiße kaum kennt – und es wird sehr deutlich, dass Patrisse Khan-Cullors ihre Selbstermächtigung als queere, schwarze Frau aus Unfreiheit gewonnen hat.

Durchdringende Unmittelbarkeit durchzieht auch Claudia Rankines Citizen, ein schmaler Band, der lyrische Erzählungen von Alltagsrassismus und eine fast essayistische Auseinandersetzung mit dem Rassismus von SportlerInnen wie Serena Williams enthält. Sie erzählt von einer Therapeutin, die sie für eine Einbrecherin hält, einer Freundin, die nicht die Diskriminierung anspricht, deren Zeugin sie wird, den Fehlentscheidungen, die Serena Williams hinnehmen sollte, ohne wütend zu werden. Es sind kleine Aggressionen, Bemerkungen, Verhaltensweisen, deren Folgen schwer in Sprache zu fassen sind, doch genau das gelingt Rankine. Sie macht den Schmerz, aber auch die Selbstzweifel fassbar, das Gefühl, verrückt zu werden, vielleicht überempfindlich zu wirken und doch zu wissen, dass es nicht Ordnung ist. Diese Worte und Erlebnisse brennen sich hier nicht nur in Körper, sondern auch in die Psyche ein. Und in den Worten und der Gestaltung dieses Buchs spiegelt sich die Ambivalenz wider, die für viele Schwarze in den USA alltäglich scheint.

Im Sommer 2016 gab Toni Morrison sechs Vorlesungen an der Harvard University, die nun in dem Band Die Herkunft der anderen versammelt sind. Sie liefert keine umfassende Theorie zum Thema Rassismus und Literatur, sondern eher Denkanstöße bspw. über den selbstverständlichen Rassismus von Autoren wie Hemingway und Faulkner oder die Frage, warum die Hautfarbe von Figuren eine Rolle spielt. Dabei verbindet sie Anekdotisches mit Analytischem und zeigt sich „entschlossen, dem billigen Rassismus die Zähne zu ziehen und den allgegenwärtigen, gedankenlosen, wohlfeilen Hautfarbenfetischismus zu brandmarken und auszutilgen. Denn er ist nichts anderes als ein Echo der Sklaverei.“ Die Sklaverei als ein Echo zu sehen, wäre für Ta-Nehisi Coates eher eine Untertreibung. In We Were Eight Years in Power versammelt er acht Essays, die er während der Präsidentschaft Obamas für den „Atlantic“ geschrieben hat und leitet sie mit persönlichen Beobachtungen ein. Dadurch ist dieses Buch die Geschichte eines jungen schwarzen Journalisten und eine Analyse der ersten schwarzen Präsidentschaft der USA. Coates erläutert die Umstände seines Schreibens, hinterfragt seine Einschätzungen und verbindet sie zugleich mit seiner Überzeugung, dass die Sklaverei das Fundament ist, auf dem die USA steht. Rassismus ist nicht ein Übel, sondern im Gründungsmythos bereits angelegt. Man muss Coates’ Analysen nicht vollends zustimmen, aber sie geben hochspannende Impulse und schärfen die Wahrnehmung politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen nicht nur in den USA.

Khan-Cullors liefert die direkte Erzählung der strukturellen Benachteiligungen, die Coates analysiert; Rankine findet Worte für Empfindungen und Morrison denkt darüber nach, was Worte über das Denken aussagen. Zusammen gewähren diese vier Bücher einen schmerzhaften, hochspannenden und sehr aufschlussreichen Einblick in die Gesellschaft der USA. Denn sie liefern ein Zeugnis von der Erkenntnis ab, dass eben nicht nur Integrität und Verdienst über Erfolg entscheiden, sondern auch Klasse und race.

Themenwelten

Senioren, Greise, Silver Surfer

Senioren, Greise, Silver Surfer

Alte Menschen in der Literatur

Vom Eise befreit

Vom Eise befreit

Frühlingsliteratur

Über das Denken

Philosophie für Kinder

Von Geburt an Philosophen

Wer sind die anderen?

Afrika

Der so genannte dunkle Kontinent

Familiengeschichten

Vater, Mutter, Kind, Krieg

Familiengeschichten

Wirtschaftskrisenwerke

Wirtschaftskrisenwerke

Über Gier und Risiko