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Fotos: Alva Gehrmann

Morten A. Strøksnes Sachbuch "Das Buch vom Meer"

Zwei Freunde und das Meer

Am 28. September erscheint unser neues Magazin. Hier schon einmal als kleiner Vorgeschmack eine Reportage unserer Autorin Alva Gehrmann: Morten A. Strøksnes hat ein außergewöhnliches Sachbuch über das Meer und seine Freundschaft zu Hugo geschrieben. Die beiden verbindet der Traum, einen Eishai zu fangen. Alva Gehrmann erlebte das Buch mit ihnen nach – auch auf rauer See.

Das Meer vor den Lofoten ist aufgewühlt und so manche Welle höher als unser kleines, offenes Motorboot. Doch das schreckt Morten und Hugo nicht ab. Im Gegenteil. Die beiden Norweger haben schon viel waghalsigere Touren gemacht. Sie fuhren mehrfach hinaus, um in einem Schlauchboot und mithilfe stinkender Köder rund 600 Kilo schwere Eishaie zu jagen. Warum also nicht auch bei rauer See und bedrohlicher Wolkenfront auf eine Angeltour gehen? Wenn ich diesen Trip überlebe, wird das sicherlich eine tolle Geschichte, schießt mir durch den Kopf, bevor ich mich auf dem Boden kauernd an Mortens rechtes Bein klammere. Ich habe panische Angst rauszufallen und aufgeschluckt zu werden – sei es nun vom Meer oder von einem Hai. 
Dreieinhalb Milliarden Jahre nach der Entwicklung des ersten primitiven Lebens im Meer machte sich der Journalist und Autor Morten A. Strøksnes auf, ein Sachbuch über die Ozeane zu recherchieren und gemeinsam mit seinem Freund Hugo Aasjord zu versuchen, in vier Jahreszeiten einen Eishai zu fangen. 
In „Das Buch vom Meer“ verwebt Strøksnes gekonnt seine persönlichen Abenteuer mit Geschichten über die Ozeane, er erzählt von mutigen Fischern und von früheren Gelehrten, die knallrote Riesenseeschlangen gesehen haben wollen. Wir erfahren, dass Plankton weit über die Hälfte des Sauerstoffs erzeugt, den wir einatmen, und dass es unter dem Mikroskop betrachtet mal wie ein offenes Waffeleisen oder ein stacheliges Geschlechtsorgan aussehen kann. Der 50-jährige Autor kritisiert aber auch Lachszuchtfarmen, die Gift in die Fjorde fließen lassen, und die Vermüllung der Meere. Dabei schreibt er mal faktenreich, mal poetisch: „Als wir anfingen zu angeln, war der Rhythmus der Wellen ruhig und regelmäßig wie der Atem eines riesigen schlafenden Wesens.“  

Lebendige Boote und das Haus im Meer

Auch an diesem Aprilnachmittag ist der Vestfjord sanft. Für vier Tage habe ich die Möglichkeit, das Buch mit dem Autor und seinen Hauptprotagonisten nachzuerleben. Zu diesem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, wie sehr meine Seetauglichkeit auf die Probe gestellt wird. Treffpunkt ist Skrova. Die Insel gehört zu den Lofoten im Norden Norwegens. Von Oslo aus fliegt man zuerst nach Bodø, steigt dann um in den Flieger nach Svolvær und nimmt von dort die Fähre. Hugo Aasjord besitzt auf Skrova die ehemalige Fisch- und Tranfabrik „Aasjordbruket“ sowie zwei Holzhäuser, die seine Familie zum zweiten Wohnsitz umgebaut hat. Hier beginnen im Sachbuch die meisten Touren der beiden Abenteurer. 
Während der 20-minütigen Überfahrt sieht man, warum die Lofoten so beliebt sind. Die spitzen Berge ragen im glitzernden Meer steil auf, davor lagern einzelne Schären. Am Naturhafen öffnet sich am Bug die Fährenklappe. Sie erinnert an das Maul eines gigantischen Hais, der nun zehn Besucher und zwei Autos ausspuckt. 
Hugo Aasjord wartet schon an der Anlegestelle. Die 61 Jahre sieht man ihm nicht an. Er hat dunkles, lockiges Haar und einen dichten Schnäuzer, stets trägt er eine Nickelbrille. Da sich in Nordeuropa die meisten duzen, tun wir das auch. Morten, den ich zuvor bereits in Oslo traf, kommt einige Stunden später an. 
Skrova hat eine lange Fischereitradition. Während sie in Svolvær, der größten Stadt der Lofoten, nun eher von den Touristenschwärmen profitieren, ist es auf dieser hotelfreien Inselgruppe mit seinen knapp 200 Einwohnern wesentlich ruhiger. 
Wir spazieren vorbei an einigen Holzhäusern, mit Stockfisch behangenen Trockengestellen und überqueren eine Brücke. Einzelne Boote wiegen sanft im Wasser. Vom Steg des Nachbarn aus gelangt man zum weiß gestrichenen Fabrikgebäude. Hugo schiebt die schwerfällige Eingangstür zur Seite – und schon stehen wir in der früheren Fischannahmestelle, die heute gefüllt ist mit einem aus alten Kisten gezimmerten Tresen, hölzernen Spülbottichen und undefinierbaren Gerätschaften. Es ist genauso, wie es in „Das Buch vom Meer“ beschrieben wurde. 
In meinem Gepäck wartet Mortens Werk darauf, fertig gelesen zu werden. Ich erfuhr schon, dass ein Versuch den „kjempehai“, wie er auf Norwegisch heißt, zu erwischen, gescheitert ist. Dass die Freunde immer wieder auf gutes Wetter warten mussten und sich die Zeit damit vertrieben, den richtigen Köder vorzubereiten oder das teils baufällige Gelände weiter zu renovieren. 
„Schau mal, dass ist die Kvitberg I“, sagt Hugo und zeigt auf das vergilbte Foto an einer Wand. Die Familie Aasjord lebte viele Generationen von der Fischerei, sein Vater fuhr schon als Achtjähriger zur See und die Familiengeschichten sind eng mit ihren Booten verbunden. „Diesen Eismeerkutter aus dem Jahr 1912 nutzten meine Vorfahren für den Thunfischfang. Es war ein gutes Boot.“ Morten schreibt, dass Fischer häufig über Boote reden, als wären sie lebendige Wesen. Aasjordbruket ist auch so ein lebendiges Wesen. Die Anlage ist wie ein angedocktes Schiff, sie steht zum Großteil auf Holzpfählen im Meer, und da einzelne Bodenplanken lose sind oder fehlen, strahlt das sich im Wasser spiegelnde Licht in den Raum. Hugo zeigt mir, wo ich übernachten werde. In der ersten Etage gibt es eine kleine Wohnung. Er und seine Frau Mette haben ihr rotes Häuschen fertig renoviert, also wohne ich in ihrem ehemaligen Schlafzimmer. 

Foto: Morten A. Strøksnes  

Eishaijagd und Kalbejau-WM

Am späten Abend ist auch Morten auf Skrova angekommen. Wir sitzen am Esstisch und klären die grundlegende Frage, wie die Idee für die Jagd entstanden ist. „Ich hatte schon fast alle Meerestiere gesehen, aber noch keinen Eishai“, sagt Hugo und rückt seine Brille zurecht. „Mein Vater erzählte mir von den zähen Tieren, die selbst verwundet weiter Walfleisch verschlangen.“ Auch für Morten war der Eishai ein fremdes Wesen. „Hugo musste mich also nicht groß überreden. Ich schluckte den Köder sofort.“ 
Der Autor wuchs in Kirkenes auf, einer nördlichen Kleinstadt an der Barentssee, und ging in jungen Jahren oft angeln. Schon damals faszinierte ihn, dass in der Tiefe eine eigene Welt mit unzähligen Geschöpfen existiert, über die er so gut wie nichts wusste.
Heute gilt er als Meereskenner und erklärt, dass der Eishai nicht unter Naturschutz steht und ein Urzeitwesen ist, das am Grund norwegischer Fjorde bis hinauf zum Nordpol schwimmt. Das Tier wird rund 200 Jahre alt, sodass man also theoretisch einem Hai begegnen kann, der während der Napoleonischen Kriege geboren wurde. Das Fleisch interessiert die Jäger nicht, dafür aber seine Leber. „Der daraus gewonnene Tran ist ideal für die Herstellung von Malerfarbe. Dieses Haus ist mit dem Tranöl vom Kabeljau gestrichen“, sagt Hugo. „Doch nichts soll über das Öl vom Eishai gehen.“ Das haben ihm alte Seemänner berichtet, die Farbe werde sehr hart und halte über 50 Jahre. 
Selbst wenn Hugos Familie eine lange Fischereitradition hat und er schon als Zehnjähriger auf Booten übernachtete, ist er selbst nie Fischer geworden. Als Teenager zog es ihn in die trockene Ferne: nach Münster. Dort studierte er in den Siebzigerjahren an der Kunstakademie, sein Deutsch ist noch immer ausgezeichnet. Bis heute strukturiert der Künstler, der mit Vorliebe abstrakte Gemälde schafft, sich den Tag nach „Derrick“. Der Sender NRK2 strahlt wochentags um 17 Uhr eine Folge aus. „‚Derrick‘ spielt genau in der Zeit, als ich in Deutschland lebte. Es erinnert mich an damals.“ 
Im Alltag wohnt Hugo mit Mette, einer Lehrerin, in Steigen. Ihre Kinder sind längst aus dem Haus. Eine Stunde brauchen sie mit ihrem RIB (Rigid Inflatable Boat) über den Vestfjord. Das Schlauchboot wurde auch bei der Eishaijagd genutzt.  
Dieses Wochenende jagen sie andere Tiere: Es findet die Weltmeisterschaft im Kabeljaufischen statt. Im Frühjahr kommt der Kabeljau von der Barentssee, Mortens Heimatregion, hinunter zu den Lofoten. Millionen Kabeljaue laichen dann in diesen Gewässern, sofern sie nicht erwischt werden. 
Am nächsten Morgen scheint die Sonne durch das Fenster. Während Morten nebenan noch schläft, brühe ich mir Kaffee und schaue auf den Hafen. Die Fähre spuckt viele Menschen aus, denn heute wird Skrova ab mittags zur Partyhochburg. Vor einem Jahr fand die Feier in Aasjordbruket statt. Einige erinnern sich daran und klopfen bereits morgens an die große Holztür. Doch dieses Jahr kümmert sich ein nahegelegenes Lokal um die Gäste. Für die meisten WM-Teilnehmer geht es weniger um den Kabeljau als vielmehr um die Feiern. Firmen aus ganz Norwegen nutzen das Wochenende zum feuchtfröhlichen Teamgeist-Event. Sie tanzen in neongelbleuchtenden Sicherheitsanzügen, bis ein RIB oder Helikopter sie wieder nach Svolvær bringt. 
Mette hilft ehrenamtlich beim Ausschank aus, Hugo und Morten schauen sich das Spektakel zunächst skeptisch an. Irgendwann ergeben wir uns und trinken mit. Anders ist es nicht auszuhalten. Das Wetter wäre ideal für einen Ausflug, aber nun sind wir nicht mehr fahrtüchtig. Stattdessen spaziere ich am frühen Abend mit Mette quer über die Insel zu einem einsamen Strand. Wir baden im eiskalten Wasser und atmen frische Meeresluft ein. Als wir wie neugeboren zurückkommen, brät Hugo gerade panierte Kabeljauzungen, dazu serviert er Kartoffeln, knuspriges Flatbrød und Butter. 
Nach dem Abendessen stehen Morten und ich auf dem Steg, der das rote Holzhäuschen mit Aasjordbruket verbindet. Über uns flackern die Nordlichter, unter uns baumeln die trocknenden Stockfische. „Am Meer habe ich ein Gefühl von Befreiung“, sagt der Autor, der ansonsten in Oslo und Berlin lebt. Auch wenn die norwegische Hauptstadt am Fjord liegt, sieht er das salzige Wasser in seinem Viertel nicht. 
Meine Tage auf Skrova sind ein ständiges Déjà-vu, regelmäßig befinde ich mich an Orten oder werde in Gespräche verwickelt, die im Buch vorkommen. Das ist von den Gastgebern nicht inszeniert, es ist ihr Leben. Zum Alltag und Inselrhythmus gehören auch der ständige Blick auf das Meer, die Wolken und den Online-Wetterbericht.  

 

Foto: Morten A. Strøksnes  

Raus aufs Meer und rein ins Buch

Der dritte Tag kommt und wieder prüft Hugo die Vorhersage für die nächsten Stunden: Regen und starke Brise aus Süd-Südost. Er ist nicht zufrieden. Von der geschützten Bucht aus wirkt das Meer ruhig, doch draußen schlagen die Wellen höher. Ich nutze die Zeit zum Lesen. „Das tiefe, salzige, schwarze Meer brandet uns entgegen, kalt und gleichgültig, ohne jede Empathie …“, steht dort, „es kümmert sich nicht um unsere Ängste – und schon gar nicht um unsere Beschreibungen.“ 
Vielleicht ist es doch besser, wenn wir nicht rausfahren können. Am Mittag beschließen sie, dass wir es probieren sollten. „Hugo kann das Meer lesen“, sagt Morten aufmunternd und packt die Angeln ins Boot. Wir tragen nun rotleuchtende Schutzanzüge, darunter mehrere Wollschichten. Ich versuche, mein Smartphone zu verstauen, und tippe aus Versehen auf ein paar Tasten. Kurz darauf klingelt es: „Hier ist die Polizei, sie haben die Notrufnummer gewählt. Ist alles okay?“ Ob das ein schlechtes Omen ist? 
Nun geht es mit dem 14-Footer los, das größere RIB haben sie nicht dabei. Anfangs sitze ich neben Morten auf der schmalen Pritsche, während Hugo vorne das offene Boot mit dem 30-PS-Außenbordmotor steuert. Sobald wir die Bucht verlassen, sehen wir die beachtlichen Wellen. Es geht vorbei an Schären und hinaus aufs offene Meer. 
Düstere Wolken hängen bleiern über uns, unter uns liegen rund 500 Meter Tiefe. Wir fahren auf die berühmte Lofotenwand zu, die Seefahrer fürchteten und Künstler zeichneten. Morten erinnern sie an ein „Gebiss aus schwarzen Haifischzähnen.“ Jetzt bloß nicht an Haie denken. Als ich den Autor anschaue, lächelt er kurz. 
Der Vestfjord hat seine Tücken. Die sich ständig verändernden Strömungen, Winde und Untiefen können zu einem unberechenbaren Mix führen. In Küstennähe ist es oft gefährlicher als auf hoher See, unzählige Schiffe zerschellten schon an den Schären. Zum Glück kennt Hugo dieses Gebiet genau, auch wenn die Gischt gerade seine Nickelbrille beschlägt. 
Irgendwann stoppt er den Motor. Die beiden holen stumm ihre Handangeln raus und werfen sie samt Plastikköder über Bord. Vielleicht haben uns die anderen ja noch Kabeljau übrig gelassen. Ich starre im kräftig schaukelnden Boot auf die Wellen. Es ist unglaublich, dass diese blaugraue Masse aus unzähligen Wassertropfen bestehen soll. 
Außer uns ist niemand draußen, die meisten haben während der WM gefischt oder liegen verkatert im Bett. Wenn wir jetzt kentern, findet uns keiner. Ob diese Anzüge uns im Meer tragen? Plötzlich sehe ich Stangen aus dem Wasser ragen. Unser Boot treibt langsam auf sie zu. 
Nach wenigen Minuten schauen sich die beiden Freunde an, sie ziehen kommentarlos die Angeln hoch, werfen den Motor an und kehren schnell um. Das ist der Moment, wo ich mich auf den Boden hocke und an Mortens Bein klammere. Erst in der Bucht von Skrova lasse ich los. Hugo sagt, dass die Stangen Zeichen für unterirdische Gebirge sind und dass man dort sehr aufpassen muss, weil sie leicht den Motor oder das Boot beschädigen können. Außerdem zog sich der Himmel zu. Noch während er spricht, fängt es an zu regnen. 
„Als du mich auf dem Meer angesehen hast, sah ich das erste Mal wieder richtige Angst“, sagt Morten später. „Vielleicht sollte ich mich daran erinnern, wie gefährlich es draußen sein kann.“ Hugo betont, dass dieser Trip wirklich harmlos war. „Da habe ich schon viel Schlimmeres erlebt!“ Ich glaube es ihm sofort und im Buch kann man es nachlesen. 
Nach vier abenteuerlichen Tagen geht es für mich zurück ans Festland. Das Meer schert sich nicht um unsere Angst und um unsere Beschreibungen, doch wir schätzen das Meer und können nicht genug davon bekommen. 

Morten A. Strøksnes: Das Buch vom Meer

Das „Buch vom Meer“ hat in Norwegen die wichtigsten Preise gewonnen, darunter den Kritiker- und Brage-Preis für das beste Sachbuch. Es wurde innerhalb weniger Monate in 17 Ländern verkauft. Der für unseren Markt geänderte Titel suggeriert ein Ende, doch die Wahrheit ist komplizierter: „Das Buch vom Meer oder Wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um im Nordmeer einen Eishai zu fangen, und dafür ein ganzes Jahr brauchen“.

Übersetzt von Ina Kronenberger, Sylvia Kall, DVA, 368 Seiten, 19,99 Euro, als E-Book erhältlich

Hörbuch: Gelesen von Stefan Wilkening und Shenja Lacher
der Hörverlag, 538 Min./1 MP3-CD, 19,99 Euro

Alva Gehrmann berichtet als freie Journalistin seit über zehn Jahren aus Nordeuropa, u. a. für die „FAS“, „Spiegel Online“, „GEO Special“ und in ihrem Island-Buch „Alles ganz Isi“ (dtv); alvagehrmann.com

 

 

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